Mittwoch, 17. Juni 2009

Schule, Schule, zur Schule

von Nina

Die Schule für Menschen mit Behinderung liegt nahe des Rathauses von Villa el Salvador. Mit dem Bus brauchen wir 20 Minuten von Rosas Haus aus.
Wir das sind: Rosa, ihre Mutter, ein Nachbarskind, ich und noch eine andere Freiwillige. Und was wir wollen: Das Rosa auf diese Schule gehen kann!
Im Schulhof müssen wir warten und schauen uns um. Von Mauern umgeben bietet die Schule ein recht schönes Bild aus Grünflächen und Gebäuden. Nachmittags gibt es zwei Handwerksstätten, dort werden Ketten, Armbänder und Handyaufhänger hergestellt. Die Jugendlichen in den Werkstätten arbeiten mit Zange, Draht und Perlen - kann Rosa bei einer dieser Werkstätten mitmachen?

Wir werden zum Schulpsychologen gerufen. Eine harte Fragestunde beginnt. Rosas Mutter ist so nervös, dass sie nicht mehr das Geburtsdatum ihrer Tochter weiss. Die Situation ist angespannt, Rosa dem Weinen nah, als der Psychologe erklärt, dass seit Beginn des Jahres nur noch Kinder mit mehrfacher Behinderung die Schule besuchen dürfen. Anweisung vom Staat.

Als Rosa fünf war, hatte sie eine Krankheit und kann seitdem ihre Hand nicht mehr richtig bewegen, dazu kommt, dass sie sich wenig merken kann. Jetzt ist Rosa 16 Jahre alt und seid sie acht ist nicht mehr zur Schule gegangen. Die staatliche Schule wollte sie nicht mehr, da sie nicht Lesen und Schreiben lernen konnte.

Der Psychologe fragt die Mutter, ob sie nicht nach einer anderen Schule gesucht hätten: "Nein".

In solchen Momenten bin ich ein leidenschaftlicher Verfechter der Schulpflicht. Wie kann es sein, dass Eltern ihre Kinder einfach zu Hause behalten dürfen? Wie kann es sein, dass sie nicht nach Möglichkeiten suchen, sondern etwas akzeptieren, was noch lange nicht akzeptiert werden muss?
Ja natürlich weiss ich, dass in Deutschland die Schulpflicht ein umstrittenes Thema ist und wie überhaupt sollte in Peru so etwas um- oder durchgesetzt werden?

"Los niños solo son prestados" - Die Kinder sind nur geliehen... sie gehören uns nicht, wir können mit ihnen nicht machen was wir wollen...

Da stoße ich an den schwierigen Punkt, wie weit sich der Staat mit seinen Gesetzen in das Familienleben einmischen darf. In Deutschland habe ich viele Diskussionen darüber gelesen. Wann darf das Jugendamt eingreifen, was sollen Sozialarbeiter machen und was ist mit Pflichtuntersuchungen für Kinder?
Fragen die in Deutschland auftauchen, die hier nicht gestellt werden können, da es weder Jugendamt noch Sozialarbeiter gibt. Und Pflichtuntersuchungen? Gerade jetzt ist der Staat dabei eine Krankenversicherung für Menschen mit wenig Geld bereitzustellen, damit diese eher schlecht als recht, aber wenigstens überhaupt zum Arzt gehen können, wenn sie krank sind. Aber gesunde Kinder?
Über die genaue Arbeit des Jugendamtes mag man in Deutschland streiten, nicht aber darüber, ob eine solche Einrichtung generell notwendig ist. Der Staat soll eingreifen, wo Familienstrukturen versagen.

Das Gespräch ist beendet. Der Psychologe geht raus, spricht mit der Direktorin, wir bleiben zurück und warten - ich bin mir nicht mehr so sicher. Warten, wir machen irgendwelche blöden Witze, um die Anspannung nicht ins Unendliche wachsen zu lassen.

Warten - wird es klappen?

Der Psychologe kommt zurück,
setzt sich, wir starren ihn an
-
"sie kann bleiben".

Ich halte den Atem an und fange an zu verstehen, was er da gerade sagt. Ich schaue in die Runde. Dieser Gesichtsausdruck, wenn man nicht genau weiss, ob jemand weint oder lacht. Dankbarkeit, Erleichterung.

Der Psychologe erklärt uns das weitere Vorgehen. Die Schule ist umsonst, nur das Fahrtgeld muss von den Familien getragen werden und Rosa braucht einen Ausweis. Da sehe ich schon wieder die ersten Hürden. Wie soll die Familie die 80 Sol im Monat aufbringen, die für den Transport nötig sind?
Vielleicht muss ich jetzt auch einfach aufhören zu fragen und mich freuen: Rosa wird zur Schule gehen! Einfach hoffen, dass alles klappt und das sich irgendwann, Schritt für Schritt auch das ganze Land in diese Richtung wendet.

Für heute verlassen wir das Schulgelände. Was bleibt ist eine völlig erschöpfte Mutter und einen strahlende Rosa. Ihre Augen leuchten - genau wie meine.