Die Durchführung des Projektes stellte mich und die Schüler gleichermaßen auf die Probe. Wir scheiterten regelmäßig - standen aber immer wieder auf. Für mich war es das erste Projekt dieser Größenordnung. Die Arbeitbedingungen waren hervorragend. Im "Casa de Carton" sieht man die Kunst nicht als ein randständiges Beiwerk an sondern als elementare Bildungaufgabe. Es geht hier nicht um Nachmittagsbespassung sondern um Hilfe zur Selbstentwicklung. Dies wird auch durch die Anzahl der Wochenstunden deutlich, die sich mit manchen Hauptfächern vergleichen lässt. Beleuchtet man den Zirkus, oder mehr noch die Kunst im Algemeinen, unter dem Gesichtspunkt der ästhetischen Erziehung wird ihre Bedeutung in der Erziehung deutlich. Was die Kunst macht ist, dass sie den ganzen Menschen anspricht - Kopf, Herz und Hand. Es werden Geschichten erzählt, die kognitiv erfasst werden müssen, anderseits wird durch das Einüben von Kunststücke der Körper angesprochen, was ja von Bedeutung ist für die gesamte geistige Entwicklung. Die Entwicklungsprozesse in der Gruppe, das Theater und die Clownarie sprechen die Seele der Artisten an. Die Idee ist ja, so hat es der deutsche Pädagoge Hartmut von Hentig ausgedrückt, dass keine Erziehung für die Kunst geschieht, sondern eine Erziehung an der Kunst. Wir lernen nicht für den Zirkus sondern von dem Zirkus. Der Zirkus ist also nicht etwas was wir den Kinder vorsetzen sondern etwas was im Prozess immer neu entsteht. Lehrer und Schüler tragen gleichermaßen zum Gelingen des Projekts bei. Es geht nicht um eine pädagogische Inszenierung der Wirklichkeit sondern um eine gemeinsam entwickelte Wirklichkeit die pädagogisch wirken kann.
Die Semesterplanung stellte Nina und mich vor eine Herausforderung die wir jedoch gut meistern konnten. Mehr zu kämpfen hatte ich mit der spanischen Sprache. Es ist unglaublich kräftezehrend vor einer Schulklasse zu stehen und mit den Worten zu ringen. Das tragische an der Sache ist, dass man reden will, dass man Ideen hat, diese aber oft nicht ausdrücken kann.
Von den Schülern verlangt der Zirkus eine Menge an Konzentration, Geduld und Willenskraft. Worum es geht sind ja nicht in erster Linie die Kunststücke. Vielmehr geht es um die Begegnung. Zuerst mit sich selbst, seinem eigenen Körper, seinem eigenem Können und Unvermögen, danach um das Zusammenspiel mit den Klassenkameraden. Was ich den Schülern vermitteln will ist die Fähigkeit eine Sache richtig und gut zu tun, sich einem Ziel zu widmen und es mit Konzentration und Hartnäckigkeit zu verfolgen. Die Tücken der Jongliermaterialien fordern mich und stellen mich auf die Probe. Ich kann die Aufgabe annehmen oder scheitern. Man muss die guten Ideen am Schopf packen und festhalten, sonst erlischen sie wieder wie Strohfeuer. Hartnäckigkeit, so scheint es, ist in Peru eine seltene Tugend. Ich will an einen weiteren Gedanken von Hartmut von Hentig anknüpfen. Der Pädagoge und Autor hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: "Bewährung - über die stärkende Erfahrung, nützlich zu sein." Hier geht es ihm um den Wert der Erfahrungen im direkten Wirklichkeitszusammenhang gemacht wird. Der Gedanke findet sich in der Erlebnispädagogik von Kurt Hahn wieder oder dort wo Kinder Gärten oder Tiere pflegen. Gegenüber dem "Lernen auf Vorrat" was in der Schule oft praktiziert wird können die Kinder auch im Zirkus an den Dingen direkt lernen und sich entwickeln. Der Hamburger Professor Jürgen Funke- Wieneke führt in seinen Überlegungen über den Zirkus fort: “Um zu erkennen, wer wir selbst sind und sein können, müssen wir nicht in uns gehen, sondern – umgekehrt- aus uns heraus gehen.” Er beschreibt, dass wir in Gestalten und Objekten der Umgebung die Eigenschaften und Möglichkeiten entdecken, die auch Möglichkeiten unserer selbst sein können. “Am hüpfendem Ball entdecke ich meine eigene Springlebendigkeit, an der Katze die eigene Geschmeidigkeit, am Zauber das Geheimnisvoll- Magische meines eigenen Wesens.” Der Zirkus kann ein solches reiches Umfeld anbieten.
Natürlich rufen diese Argumente und Gedanken nicht unbedingt nur nach Zirkus. Genausogut kann eine andere der oben genannten Kunstformen zu einer ästhetischen Erziehung beitragen. Ein jeder Schüler muss sich in der Kunst seine Ausdrucksform suchen. Bei einigen ist das Malen, bei anderen Zirkus. Die Organisation des Kunstunterrichts im “Casa de Cartón” ist für mich daher beispielhaft. Nicht zu letzt ist es wichtig, dass der Lehrer in seinem Fach zu Hause ist. Leidenschaft entsteht da, wo sie geteilt und weitergegeben wird.
Was mich bei unserer Aufführung am meisten beeindruckt hat war zweifelsohne die Spannung die vor und hinter der Bühne geherrscht hat. Es ist immerwieder beeindruckend zu sehen wie sich Kinder und Jugendliche in Hinblick auf einen solchen Höhepunkt verändern. Während sich Nina mit den Schülern hinter der Bühne aufhielt war es meine Aufgabe vor der Bühne für Musik und Unterstützung zu sorgen. Wir entschieden uns für ein schlichtes Aufführungskonzept das auf viel Schnickschnack verzichtet. Es gab keinen Erzähler, wenig Kostüme, dafür aber schnell geschnittene Musik die die fließend wechselnden Zirkusnummern begleitete. Der Titel der Darbietung war “Reise durchs Universum.” Die acht verschiedenen Nummern sollten das Bild erwecken von acht verschiedenen Planeten. Nachdem 19 Schüler mit einer Stockkampfdarbietung die Show eröffneten folgte eine Poi Nummer von drei Schülern. Den Mittelpunkt bildete eine Darbietung mit Bällen und Diabolos, eine weitere Stockkampfnummer von fünf Schulerinnen, sowie eine Choreographie mit Devilsticks an der sechs Schüler beteiligt waren. Bevor die Aufführung mit einer gemeinsamen Pyramide zum Ende kommt, wird ein Stelzentanz sowie eine weitere Poi Nummer präsentiert. Gerne hätte ich die acht Nummern noch einmal gesehen da auch ich im Moment der Aufführung so unter Spannung stand, dass ich nur das wahrgenommen habe was ich unbedingt wahrnehmen musste. Das wird nicht möglich sein. Trotzdem weiß ich, und das tröstet mich, dass der Zirkus mich sicherlich auch noch in Zukunft verfolgen wird.
Fotos vom Zirkus: hier